Wieso haben wir so starke Schmerzen und weshalb verschwinden sie nicht? Schmerzen sind nicht nur unangenehm, sie können unseren Alltag regelrecht lahmlegen. Ausserdem sind sie häufig länger da als gewünscht und meist nicht leicht erklärbar.
Greg Lehman, ein bekannter Wissenschaftler im Bereich der Physiotherapie und Biomechanik beschreibt das Auftreten von Schmerzen mit Hilfe eines einfachen Bildes eines Glases:
Schmerz entsteht aus der Differenz der Faktoren, welche schädlich sind für uns sind (der Inhalt des Glases) und unserer Kapazität (das Glas selbst). Übersteigt der Inhalt die Kapazität des Glases, entstehen Schmerzen im Körper.
Der Inhalt des Glases ist ein Gemisch aus verschiedenen Faktoren. Die Zusammensetzung und Anteile des Gemischs sind individuell. Welche Faktoren am dominantesten sind, ist bei jeder Person unterschiedlich und schlussendlich nur durch die Person selbst zu bestimmen. Faktoren können sein:
- biologische Faktoren: Gewebeverletzung, Abnützung, Gewebeüberlastung, Entzündung, Zusatzerkrankungen wie Darmprobleme, Diabetes, Herz-Kreislauf-Probleme
- emotionale Faktoren: Stress, Angst, Bewegungsphobie, Sorgen
- Verhaltensmuster: Bewegungsmangel, schlechte Ess- oder Schlafgewohnheiten, Rauchen, Alkohol
- Soziale Faktoren: Arbeitsbelastung, Familien- und Eheprobleme, Finanzielle Unsicherheit, Trauer
- psychologische Faktoren: Depression, Katastrophisieren
All diese Faktoren sind in unserem Leben häufig unausweichlich. Sie sind auch nicht im eigentlichen Sinne problematisch. Übersteigen sie jedoch unsere Kapazität (Glas), führen sie früher oder später zu übermässigem negativen Stress, welcher uns schadet und Schmerzen entstehen lässt. Das heisst wir adaptieren nicht positiv, sondern wir werden überlastet. Dieses Bild zeigt auch, dass Schmerzen nicht nur abhängig sind von biologischen Faktoren, wie Schädigungen im Gelenk zum Beispiel. Unser Körper kann einen biologischen Schaden nicht heilen, wenn er kaum Kapazität dafür.
Ein Beispiel: Die Patientin Susanne leidet seit Monaten an Rückenschmerzen. Im MRI zeigen sich altersübliche Abnützungen in den Gelenken. Sie hat ist sehr gestresst, da sie bei der Arbeit nicht ausfallen möchte. Sie möchte zuhause ihre Familie nicht enttäuschen und gönnt sich kaum Pausen. Durch die Schmerzen, welche ihr Sorgen bereiten, hat sie Angst zu trainieren. Ihre Mutter hatte Rückenschmerzen, welche sich durch eine aktive Therapie verschlimmerten, dies möchte sie nicht erleben. Der Arzt sagte ihr, in ihren Gelenken gleiten Knochen auf Knochen. Der Stress lässt sie auch nicht schlafen, sie nimmt auch immer mehr zu und ihre körperliche Verfassung wird schlechter.
Bei Susanne sind sehr viele schädliche Faktoren in ihrem Glas vorhanden: Stress, Angst, ungünstige Verhaltensweisen und sozialer Faktoren, welche sie stressen. Hier sind die biologischen Faktoren wahrscheinlich gar nicht so dominant. Ändern sich die Rahmenbedingungen für Susanne kaum und ihr Verhalten, ist es schwierig, ihre Schmerzen schnell loszuwerden.
Übersteigt der Inhalt das Glas, was könnte Susanne tun? Sie könnte ihr Glas vergrössern um mehr Inhalt fassen zu können. Das heisst, die Kapazität steigern und sich selbst resilienter, also robuster gegenüber den Alltagseinflüssen machen. So erhöht sich die Toleranz gegenüber den schädlichen Einflüssen. Ein grösseres Glas kann mehr auffangen.
Diese Faktoren beeinflussen die Resilienz:
- physisch: langsamer Belastungsaufbau, verbesserte Kraft und Kondition
- kognitiv: positive Einstellung zu Schmerzen, Bewegung, Abbau der Bewegungsphobie
- Verhaltensmuster: gesunder Lebensstil wie genügend Schlaf, gute Ernährung, Rauchstopp, Gewichtskontrolle
- sozial: Unterstützung im sozialen Umfeld, Jobanpassungen
- psychologisch: Erlernen von Strategien im Umgang mit Schmerz und Stress, Achtsamkeitstraining
Im Fall Susanne könnte dies so aussehen: Susanne könnte sich Hilfe holen und ihre Kapazität erhöhen: ein Gespräch mit dem Chef über ihre Sorgen bezüglich der Arbeitssituation, die Familie um Hilfe bitten, damit sie mehr Zeit für sich hat und mehr Bewegung in ihr Leben bringen. In der Therapie könnte sie lernen, dass physische Aktivität nicht negativ ist bei Rückenschmerzen und Bewegung keine Angst machen muss. Sie könnte angeleitet werden, wie sie einen langsamen Belastungsaufbau sicher und effektiv gestalten kann. Die altersentsprechenden Abnutzungen lassen sich nicht beeinflussen, das ist jedoch auch meist nicht nötig. Erhöht sich die Kapazität des Körpers, kann er solche Schäden wieder kompensieren. Das heisst, die Gelenksabnutzung muss gar keine Schmerzen auslösen.
Die gute Nachricht ist, Du bist dem Schmerzen nicht einfach ausgeliefert und solltest nicht darauf warten, dass Dich jemand heilt. Du hast Kontrolle darüber, Dein Glas zu vergrössern, damit sich Deine Kapazität gegenüber den potentiell schädlichen Einflüssen erhöht. Du gewinnst Resilienz und Du kannst aktiv etwas gegen Deine langanhaltenden Schmerzen tun. Es ist nicht einfach, aber es ist in Deiner Hand es zu ändern.
In der Physiotherapie im radiuszwei begleiten wir Dir gerne, die Belastbarkeit wieder aufzubauen und so dazu beizutragen, dass Dein Glas grösser wird und nicht mehr überläuft.
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